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Ontologie des photographischen Bildes (Filmtheorie)
André Bazin (1918 - 1958) war ein französischer Filmkritiker und Gründer der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma, für die zahlreiche namhafte Regisseure der Nouvelle Vague schrieben. Der folgende Textauszug entstammt seinem Essay „Ontologie des photographischen Bildes“ [O: Ontologie de l'image photographique] von 1945, der in seinem Hauptwerk „Was ist Film?“ [O: Qu’est-ce que le cinéma? T. 1. Ontologie et Langage, 1958] erschienen ist.
Lesen Sie bitte den Text und beantworten Sie die unten stehenden Fragen.
„Seit dem 16. Jahrhundert hat das Bedürfnis nach Illusion nicht aufgehört, die Malerei im Inneren zu beschäftigen; ein Bedürfnis, das an und für sich nicht ästhetisch, sondern rein mental ist [...] – doch es ist so anziehend und wirkungsmächtig, daß es das Gleichgewicht in der bildenden Kunst von Grund auf zerstört hat. [...]
Niepce und Lumière waren ihre Erlöser. Indem die Photographie das Barock vollendete, hat sie die bildende Kunst von ihrer Ähnlichkeitsbesessenheit befreit. Denn die Malerei strengte sich im Grund vergeblich an, uns zu täuschen – diese Täuschung genügte der Kunst; Photographie und Film hingegen sind Erfindungen, die das Verlangen nach Realismus ihrem Wesen nach endgültig befriedigen. [...]
Die Eigenheit der Photographie im Unterschied zur Malerei besteht also darin, daß sie ihrem Wesen nach objektiv ist. So heißt denn auch die Linsenkombination, die bei der Photographie das menschliche Auge ersetzt, treffend »Objektiv«. Zum ersten Mal schiebt sich lediglich ein anderes Objekt zwischen das Ausgangsobjekt und seine Darstellung. Zum ersten Mal entsteht ein Bild von der uns umgebenden Welt automatisch, ohne schöpferische Vermittlung des Menschen und nach einem strengen Determinismus. Die Persönlichkeit des Photographen spielt nur in der Auswahl und Anordnung des Gegenstands und bei der beabsichtigten Wirkung eine Rolle: So sichtbar seine Persönlichkeit im fertigen Werk sein mag, so ist sie doch weit weniger maßgeblich, als die des Malers. [...]
In dieser Perspektive erscheint der Film wie die Vollendung der photographischen Objektivität in der Zeit. Der Film hält den Gegenstand nicht mehr nur in einem Augenblick fest, wie der Bernstein den intakten Körper von Insekten aus einer fernen Zeit; er befreit die Barockkunst von ihrem Starrkrampf. Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, es ist gleichsam die Mumie der Veränderung.
Die Kategorien der Ähnlichkeit, die das photographische Bild kennzeichnen, sind also, anders als bei der Malerei, auch für seine Ästhetik bestimmend. Das ästheti-sche Wirkungsvermögen der Photographie liegt in der Enthüllung des Wirklichen.“
Literatur: André Bazin, Robert Fischer (Hrsg.): Was ist Film?. Berlin. 2004, S.35-39
Die Ontologie ist eine Disziplin der theoretischen Philosophie, die das Ziel hat, ein Phänomen in seinem „Sein“ und seiner Wesensbestimmung zu bezeichnen.
In seinem bekannten Essay „Ontologie des photographischen Bildes“ beschreibt André Bazin das Wesens des photographischen Bildes an sich – in Film und Photographie –, und bietet eine Einordnung in den kunstgeschichtlichen Kontext an, die ebenso die Erläuterung des spezifischen Wirkungspotentials des photographischen Bildes einschließt.
Was ist Bazin zufolge das Ziel der „Illusion“ in der Malerei? (Mehrere Antworten können richtig sein.)
Bazin geht von dem Wunsch nach Realismus in der Malerei seit der Renaissance aus, welches zum Ziel hatte, das dargestellte Motiv so lebensecht wie möglich abzubilden. Die größte Kunstfertigkeit besaßen die Maler, denen es gelang, Bilder so zu malen, dass sie den Objekten der Wirklichkeit zum Verwechseln ähnlich waren, wie etwa in den Trompe-l’œil Stillleben („Augentäuschung“). Nicht gewünscht war hingegen in der illusionistisch-realistischen Malerei die Sichtbarkeit einer „persönlichen Handschrift“ des Künstlers.
Was ist für Bazin das Ontologische (Wesensbestimmende) des photographischen Bildes? (Mehrere Antworten können richtig sein.)
Das Ontologische des photographischen Bildes liegt laut Bazin darin, dass der Mensch als Schöpfer des Bildes zurücktritt. Er ist zwar dadurch an der Bildentstehung beteiligt, dass er einen Bildausschnitt wählt und die Kameraeinstellung vornimmt, doch das photographische Bild selbst entsteht „automatisch“, in der Kamera durch den Lichteinfall in das Objektiv, welches das menschliche Auge (des Malers) ersetzt. Bazin bezeichnet die Photographie daher im Unterschied zur Malerei als objektiv und die Wirklichkeit enthüllend durch die ästhetischen Kategorien der Ähnlichkeit. Bazins Ansatz bildet einen wichtigen Bezugspunkt folgender, teils kontrovers geführter, Debatten um den Begriff des Realismus im Film.
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