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Deutsche Philologie (B.A.)

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Textverständnis (Ältere deutsche Literatur und Sprache)

Die folgende Textstelle entstammt dem wohl berühmtesten deutschsprachigen Heldenepos der mittelalterlichen Literaturgeschichte: dem Nibelungenlied. Dieser sehr umfangreiche und in mittelhochdeutscher Sprache verfasste Text, der in der uns bekannten Fassung zu Beginn des 13. Jahrhunderts schriftlich fixiert wurde, dessen Stofftradition jedoch bedeutend älter ist, erzählt die Geschichte der Burgunden bis zu ihrem Untergang. An deren Wormser Hof taucht eines Tages ein kühner und einem König ebenbürtiger Held namens Siegfried auf und möchte Kriemhild – die Schwester des Königs Gunther – zur Frau nehmen. Als Gegenleistung fordert Gunther von Siegfried, dass er ihm helfe, die im fernen Land Isenstein herrschende und angeblich unbezwingbare Brünhild zur Frau zu gewinnen. Die folgende Textstelle schildert die Ankunft der Männer in Brünhilds Land und betont sehr ausführlich das Verhalten von Siegfried und Gunther sowie deren Wahrnehmung durch die Bewohnerinnen von Isenstein.

(396) Ir wâren niwan viere,     die kômen in daz lant.
Sîfrit der küene     ein ros zôch ûf den sant;
daz sâhen durch diu venster     diu wætlîchen wîp.
des dûhte sich getiuret     des künec Guntheres lîp.

(397) Er habt’ im dâ bî zoume     daz zierlîche marc,
guot unde schœne,   vil michel unde starc,
unz der künic Gunther     in den satel gesaz.
alsô diente im Sîfrit,    des er doch sît vil gar vergaz.

(398) Dô zôh er ouch daz sîne     von dem schiffe dan.
er hete solhen dienest     vil selten ê getân,
daz er bî stegereife     gestüende helde mêr.
daz sâhen durch diu venster     die vrouwen schœn’ unde hêr.

(399) Reht’ in einer mâze     den helden vil gemeit
von snêblanker varwe     ir ros unt ouch ir kleit
wâren vil gelîche.     ir schilde wolgetân
die lûhten von den handen     den vil wætlîchen man.

Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2003.

(396) Nur vier Männer waren in dieses Land gekommen.
Der kühne Siegfried zog ein Pferd auf den Ufersand.
Das beobachteten die schönen Frauen von den Fenstern aus.
Dadurch fühlte sich Gunther in seinem Wert gesteigert.

(397) Siegfried hielt das geschmückte Pferd am Zaum,
das gut, schön, stark und sehr groß war,
bis König Gunther im Sattel saß.
So diente ihm Siegfried, was Gunther später völlig vergessen sollte.

(398) Dann führte Siegfried auch sein Pferd vom Schiff herunter.
Solchen Dienst hatte er bisher noch nie verrichtet,
daß er einem berühmten Helden den Steigbügel hielt.
Auch sahen das von den Fenstern aus die schönen und hochgeborenen Damen.

(399) Pferde und Ausrüstung der beiden trefflichen Helden
stimmten in ihrer schneeweißen Farbe vollkommen überein.
Die prunkvollen Schilde leuchteten den vorzüglichen
Männern an der Hand.

Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2003.
Wie ist diese Textstelle zu verstehen? Geben Sie an, ob die folgenden interpretatorischen Aussagen hier zutreffen oder nicht.
richtig
falsch

Das Halten des Steigbügels kennzeichnet Siegfried als Knappen Gunthers.

Es ist Siegfrieds Rang angemessen, sein eigenes Pferd und vor allem das eines anderen Königs vom Schiff zu führen.

Die Betreuung der Pferde eines gleichrangigen Ritters ist – unabhängig vom Stand – ein gängiger Freundschaftsdienst.

Durch die Hilfstätigkeit Siegfrieds wird Gunther in seiner Position automatisch erhöht.

Die als exakt gleich beschriebene hochwertige Ausstattung von Gunther und Siegfried erscheint als unvereinbarer Gegensatz zu Siegfrieds Hilfstätigkeit.

Gunther ist bewusst, dass er die exorbitant starke Brünhild im Kampf um ihre eigene Person nicht alleine wird besiegen können und bittet deshalb Siegfried ihn zu begleiten. Da dieser jedoch in seiner eigentlichen Identität als Sohn der Herrscher von Xanten keinen Platz in dieser Szenerie hat, wird er im Zuge der List als Gunthers Knappe dargestellt. Daher übt er die für ihn eigentlich völlig unpassende Tätigkeit des Steigbügel- oder Stratorendienstes aus, wodurch die Damen des Hofes in Isenstein bereits verwundert zu sein scheinen. Gesteigert wird dies noch, indem der Text hervorhebt, dass Siegfried und Gunther über die gleiche prunkvolle Ausstattung verfügen – ein Merkmal, das in keiner Weise zum angeblichen Standesunterschied passt, der ebendarum nur kurze Zeit später noch große Probleme aufwerfen und so auch zum zentralen Konflikt des Nibelungenliedes beitragen wird.