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Das Wunderargument zur Existenz unbeobachtbarer Realität
In der Theorie der empirischen Wissenschaften geht es unter anderem um die Frage, wie der Status von Aussagen zu verstehen ist, die von sogenannten theoretischen Objekten handeln. Theoretisch sind Objekte, deren Existenz wir nur aus Theorien ableiten, aber nicht direkt beobachten können. Elementarteilchen sind in diesem Sinne theoretische Objekte.
Das wirft die Frage auf, ob wir wirklich wissen können, dass diese Objekte existieren. Theorien können falsch sein, weshalb es möglich ist, dass Elementarteilchen nicht existieren. Eine Position, die Zweifel an der Richtigkeit einer anderen Position vorbringt, ist eine skeptische Position. Da wir nur indirekt theoretische Objekte beobachten können, ist grundsätzlich eine skeptische Position gegen die Existenz von Elementarteilchen möglich. In der Wissenschaftstheorie wird gegen diese skeptische Position ein Argument vorgebracht, das als Wunderargument bekannt geworden ist. Es will die Existenz von Elementarteilchen belegen. Das ist eine sogenannte realistische Position. Realistisch meint hier nicht, wie häufig im Alltag, so etwas wie machbar oder sachlich, sondern dass theoretische Objekte zum Teil des Gefüges der Realität erklärt werden. Realismus ist Anti-Skeptizismus.
- Theorien, die die Existenz von Elementarteilchen annehmen, haben beobachtbaren Erfolg. Wir produzieren beispielsweise Strom durch Atomspaltung.
- Da die Theorie beobachtbaren Erfolg hat, wäre es ein Wunder, wenn die Atome nicht genau so existierten, wie die Theorie es zugrundelegt.
- Wir schließen Wunder aus.
Schluss: Also existieren die Elementarteilchen der Theorie.
In der Philosophie geht es um Argumente im Sinne von guten Gründen, warum die vorgebrachten Aussagen und Theorien Anspruch auf Wahrheit erheben dürfen und daher gehört werden sollte. Ein wichtiger erster Schritt besteht darin, zu schauen, ob die Argumente logisch sauber sind. Sauber heißt im Fachjargon gültig. Gültig ist eine Argumentation, die keine unsauberen Übergänge enthält, in dem also der Schluss von Prämissen zur Konklusion klar und notwendig geschieht.
Mindestens ebenso wichtig ist ein zweiter Schritt. Es ist auch zu schauen, ob die vorgebrachten Argumente auch inhaltlich überzeugen. Eine Theorie mag sauber und widerspruchsfrei sein, muss aber deshalb noch lange keine überzeugende Theorie sein. Eine Theorie kann in sich widerspruchsfrei sein, aber beispielsweise mit anderen Theorie im Widerspruch stehen.
Wer der Philosophie nachgeht, wird schnell merken, dass bereits die Frage nach der Widerspruchsfreiheit eine umstrittene Frage ist. Wer nicht gern diskutiert und um gute Argumente ringt, ist in der Philosophie nicht gut aufgehoben. Es ist ein diskursives Fach. Deshalb gibt es auf die vermeintlich einfache Frage nach der Widerspruchsfreiheit schon mehrere Möglichkeiten. Noch vertrackter wird es bei der Frage nach der inhaltlichen Überzeugungskraft einer Theorie.
Aufgabenstellung
Überlege im ersten Schritt, ob das Wunderargument gültig ist und überlege, warum bzw. warum nicht. Nimm dann Stellung zu diesem Argument. Bist Du überzeugt? Wenn ja, warum bzw. warum nicht? Klicke erst dann auf die unten stehen Titel. Wenn Du auf die Titel klickst, werden beispielhafte Antwortmöglichkeiten angezeigt.
Wenn Deine Antworten andere sind, heißt das nicht, dass sie falsch sind, sondern vielleicht nur, dass Du andere Begriffe und Worte benutzt. Philosophie besteht im selbständigen Durchdenken und dem kritischen Umgang mit Sprache, nicht darin, die gleichen vorgefertigten Antworten zu geben.
Das Wunderargument ist in der obigen Form nur schwer als gültiges Argument zu deuten. Selbst wenn wir annehmen, dass wir nicht an Wunder glauben (Das ist keine selbstverständliche Annahme), ist es nicht notwendig, dass daraus die Richtigkeit der Elementartheorie folgen soll. Es kann sein, dass es keine Wunder gibt und dass die Elementartheorie trotzdem falsch ist. Der Schluss des Arguments ist nicht gültig, weil es zwei logisch unabhängige Dinge verknüpft und so einen Zusammenhang vorgibt, wo keiner ist.
Versuchen wir eine zweite Weise, das Argument zu führen, die ohne Wunder auskommt:
- Die Elementartheorie ist empirisch erfolgreich. (Wir produzieren Strom)
- Dieser Erfolg lässt sich nur damit erklären, dass die Atome, von denen in der Theorie die Rede ist, genauso existieren, wie sie in der Theorie beschrieben werden.
- Wenn die Stromproduktion eine Tatsache ist und sich diese Tatsache nur erklären lässt, weil Atome existieren, dann existieren Atome.
Schluss: Also existieren Atome.
Anders als in der ersten Variante verknüpft die zweite Weise nicht zwei logisch unabhängige Sätze miteinander. Man kann deshalb der Meinung sein, dass wir es hier mit einem gültigen Argument zu tun haben.
Haben wir es auch mit einem überzeugenden, guten Argument zu tun? Ein mögliches Problem auch dieser Rekonstruktion besteht darin, dass kein allgemeines Prinzip Teil der Argumentation ist. Ein gutes Argument sollte sich auch auf allgemein geteilte Prinzipien stützen, die auch in anderen Fällen akzeptiert sind. Ein gutes Argument gilt zwar für den Einzelfall, aber nicht, weil es nur in diesem Einzelfall gilt. Es wendet vielmehr eine allgemeine Regel auf einen Spezialfall an.
Versuchen wir es daher mit folgender letzter Argumentation:
- Die Elementartheorie und ihrer Kernaussage von der Existenz der Elementarteilchen sind empirisch erfolgreich.
- Dieser Erfolgt der Theorie ist eine Tatsache und diese lässt sich nur erklären, wenn die Moleküle existieren und die ihnen von der Theorie zugesprochenen Eigenschaften auch tatsächlich besitzen.
- Wenn X eine Tatsache ist und sich X nur erklären lässt, weil Y der Fall ist, so muss auch Y eine Tatsache sein. (3. formuliert das geforderte allgemeine Prinzip. Im Sprech der Wissenschaftstheorie: Der sogenannte Schluss auf die beste Erklärung)
Schluss: Alse existieren Moleküle und haben die ihnen von der Theorie zugesprochenen Eigenschaften.
Wenn wir annehmen, dass die Sätze 1 und 2 wahr sind, wir also annehmen, dass die Elementartheorie empirisch erfolgreich ist und die einzige mögliche Erklärung dafür ist, dass Moleküle so bestehen,wie die Theorie behauptet, dann scheint der Schluss auf die Existenz der Moleküle durch das Prinzip vom Schluss auf die beste Erklärung (Satz 3) gerechtfertigt. Es besteht somit keinerlei Grund, die Annahme der Existenz theoretischer Objekte vorschnell aufzugeben, nur weil wir sie nicht unmittelbar beobachten können.
Allerdings hat das Argument, so ließe argwöhnen, etwas Nichtssagendes an sich. Es ließe sich nämlich kritisieren, dass das Argument als wahr voraussetzt, was es als wahr beweisen soll. In etwa so: Wir produzieren Strom und die einzige Weise, wie wir das erklären können, ist, dass die Elementartheorie wahr ist. Es könnte aber sein, dass es eine andere Erklärung dafür gibt, warum wir Strom produzieren, die aber ohne Atome auskommt. Der Satz 2 wird so in Frage gestellt. Diese andere Erklärung muss gar nicht als esoterisch abgetan werden, sondern könnte eine alternative physikalische Erklärung sein, die von, sagen wir, Batomen statt von Atomen spricht. Dieser Einwand hätte die Konsequenz, dass die Behauptung, im Atomkraftwerk seien alle Zusammenhänge verstanden und daher unter Kontrolle, falsch würde.
Eine zweite Art, das Argument zu kritisieren, wäre eine Kritik des Schlussprinzips vom Schluss auf die beste Erklärung selbst: X ist der Fall, weil Y der Fall ist, aber der einzige Grund anzunehmen, dass Y tatsächlich der Fall, ist, ist der Umstand, dass X der Fall ist und Y erklärt, warum das so ist. Der Schluss auf die beste Erklärung birgt die Gefahr, eine Pseudoerklärung zu sein, vergleich mit: Der katholische Priester des Nachbardorfes ist unverheiratet und die beste Erklärung ist, dass er Junggeselle sein will. Es gibt wohl bessere Erklärungen als diese.
Was hat dieser Gang durch mögliche Weisen das Wunderargument zu führen nun ergeben? Es steht allen frei, die Existenz von theoretischen Objekten zu behaupten. Dass wir sie nur indirekt beobachten können, zeigt nicht automatisch, dass es sie nicht gibt. Das Wunderargument braucht es dazu aber nicht wirklich. Das Argument läuft eigentlich über das Prinzip vom Schluss auf die beste Erklärung. Die Rede vom Wunder ist eher Rhetorik.
Es hat sich aber auch gezeigt, dass hohe Anforderungen an die Qualität der investierten Erklärung zu richten sind. Die realistische, das heißt anti-skeptische Position sollte mit der erkenntnistheoretischen Ehrlichkeit verbunden sein, dass sich unser Wissen von den theoretischen Objekten nur bisher als noch nicht falsch erwiesen hat. Es ist nur ehrlich zu sagen, dass die bisherigen Erklärungen auch falsch sein können. Der Skeptizismus ist eine ernst zu nehmende Position. Er ist Antrieb des wissenschaftlichen Fortschritts und nicht durch leere Formeln zu beschwichtigen.
Allen und jeder, die mehr in diese Richtung lesen wollen, sei die Einführung von Prof. Dr. Holm Tetens in die Wissenschaftstheorie ans Herz gelegt, erschienen bei C.H Beck von 2013. Hier besonders die Seiten 68 bis 71 zum Wunderargument.